Lesung

Würdigung der Arbeiten

Am 13. April war es endlich soweit: Die Teilnehmenden des Wortshift-Schreibworkshops haben sich in Osnabrück zusammengefunden und ihre finalen Texte in einer Lesung vor rund 60 Besuchenden vorgetragen.

Zuvor hatten die Teilnehmenden die Gelegenheit, mit den Juroren in Kleingruppen an einem Workshop teilzunehmen. Anschließend begann der offizielle Termin, zu dem die geladenen Gäste dazukamen.

Im gemütlichen Ambiente der »Bühne 11« begrüßten Manuela Maria Lagemann und Sabine Reins vom Literaturverein Osnabrück alle Gäste und gaben anschließend das Wort an Dr. Johannes Dälken von der Felicitas und Werner Egerland Stiftung.

Nach den Begrüßungen hielt Prof. Dr. Arturo Larcati einen Fachvortrag zum Thema »Was macht Literatur lesenswert« und verglich dabei die unterschiedliche Herangehensweise der Autoren Frank Kafka und Stefan Zweig miteinander.

Als Highlight der Veranstaltung kamen dann die jungen Autorinnen und Autoren auf die Bühne. Jeder hatte 3 Minuten Lesezeit, um den eigenen Text vorzutragen. Dabei kamen die Zuhörenden in den Genuss, viele spannende Texte und Textformate kennenzulernen. Die Qualität beeindruckte das Fachpublikum. Gäste, die weniger Erfahrung mit Literatur hatten, erhielten an diesem Abend einen nachhaltigen Zugang zu Literatur.

Nach einer kurzen Pause fand die lang ersehnte Preisverleihung durch die Jury statt. Da die Qualität und Vielfalt der Texte sehr überzeugend waren, entschied die Jury in ihrem Auswahlprozess: Es gibt neben dem ersten Platz zwei zweite Plätze und drei Texte erhalten zusätzlich eine »Besondere Würdigung«.

Die Preisträgerinnen des Schreibworkshops Wortshift – Literatur neu denken 2024 sind:

Statement der Jury
Luca Isabelle Spajic hat sich mit ihrer Einreichung „Zugänge“ von den grotesken Szenen Franz Kafkas aus „Die Verwandlung“ inspirieren lassen. Dabei wollte sie dessen „rätselhafte Bilder für sich sprechen lassen und stets mit neuen  Bedeutungen aufladen.“ Dies ist ihr in höchstem Maße gelungen. Aus diesem Grund ist Luca Isabelle Spajic für die Jury eine überzeugende erste Preisträgerin. Herzlichen Glückwunsch!

In „Zugänge“ lernen wir eine Ärztin kennen, die bei ihrer Arbeit im Krankenhaus ihren Patienten ganz praktisch Zugänge legen muss und gleichzeitig auf der persönlichen Ebene Zugänge zu den Patienten findet. Medizinische Zugänge morphen überzeugend in emotionale hinein.
„Der Gedanke, jemals fertig zu werden, jemals alle Aufgaben abarbeiten zu können, ist verlockend und lässt mich in ein immer schnelleres Arbeitstempo verfallen … Von dieser realitätsfernen Vorstellung lebt ein auf Gewinnmaximierung ausgerichtetes System. Es kommen immer neue Aufgaben nach. Sie kriechen aus allen Winkeln, dann ist es kurz ruhig, und auf einmal sind da viele Würmer, zu viele Aufgaben und taubes Agieren bricht aus, weil wie soll das alles jemals bewältigt werden können.“ Dieses Zitat ist ein gutes Beispiel für ihre Schilderung einer absurden Situation. Es beschreibt eine kalte Welt, in der eine Person ausgeliefert ist und dennoch versucht, sich der Realität aufgeschlossen und positiv zu nähern. Mit poetischen Bildern gelingt es der Autorin, den alten Text Kafkas mit neuer Bedeutung aufzuladen. Trotz oder gerade wegen der grotesken Schilderung wird der heutige Krankenhausalltag ganz plastisch.
Luca Isabelle Spajic’ Erzählung könnte da enden, aber genauso gut kann diese Geschichte weitererzählt werden. Eine Stärke, die den Text so deutlich hervorhebt: Logik und Stringenz lassen den Inhalt strahlen. Wir Lesenden spüren fast körperlich die riesige Wunde im Rücken der Ich-Erzählerin und ahnen, dass sich daraus neue Konflikte ergeben werden.
„Da ist Schmerz nicht genug gelebt zu haben. Da ist Freude, es irgendwann doch entdeckt zu haben und Weite, in der beides Platz hat.“, erkennt die Patientin, die auch Ärztin ist.
Und all dies erreicht eine zusätzliche Dimension, als in der Figur des Kontrolleurs der Tod vor ihr steht. Er wischt all die quälenden Schmerzen in ihrem Rücken, bei ihrer Arbeit mit dem Klinikpersonal, beiseite. Sie nimmt seine Hand und beide machen sich auf zu einem bewusstseinsüberschreitenden Spaziergang, zu dessen Abschluss die Sonne – zumindest für den Moment – „aus unserem Blickfeld verschwindet“.

Zugänge lesen

Statement der Jury
Ýr Estrid Langhorst hat mit „Parole: Emily und der rauchende Bus“ einen Text für – vor allem – Jugendliche geschrieben, was ganz logisch ist, denn sie hat sich für eine Überschreibung der Bücher von Erich Kästner entschieden.

Erich Kästners Stil, Jugendliche beim Erwachsenenwerden zu beobachten und bestehende Konflikte, die unter der Oberfläche schwelen, wahrzunehmen und zu beschreiben, wird in „Parole: Emily und der rauchende Bus“ eigenständig und überzeugend aufgenommen.
Auch bei Ýr Estrid Langhorst beginnt es zunächst einfach. Es ist ein Morgen, ein ganz normaler Morgen, an dem der Schulbus sich auf seinem Weg in die Stadt befindet. Etwas ist diesmal anders, Emily trägt einen neuen, von ihrem Freund Dienstag geschenkten Rock, der offensichtlich so auffällig ist, dass alle, fast alle, im Bus darüber tuscheln. Wenn es nur das Tuscheln wäre, und nicht dieses eine Wort, das Emily völlig aus dem Konzept bringt. Und sie in ihre eigene Welt katapultiert.
„Emily ist eine von uns. Und überhaupt. Niemand sollte Mädchen beschimpfen.“ Etwas so Einfaches wie ein neuer Rock macht Emily zur Außenseiterin. Und stellt sofort die Frage, warum man zu einer Clique gehört oder warum nicht. Wer zeigt sich am Ende als ein wahrer Freund? Warum haben immer die Älteren die besseren Argumente? Und was muss man dafür anstellen?
Ýr Estrid Langhorst schreibt eine Geschichte übers Heranwachsen oder Erwachsenwerden, über den Prozess des „Coming of Age“. Im Mittelpunkt stehen hier die Freundschaften, die uns dabei begleiten, die ersten Konflikte mit älteren Bezugspersonen und natürlich die erste Liebe. „Wie schließt man Frieden, ohne seine eigenen Grenzen zu vergessen und inwieweit kann ein Mädchen Teil von den Jungs sein und was bedeutet das eigentlich?!“, fragt sich Emily.
Die Autorin schafft in ihrem Entwurf spürbar eine jugendliche Atmosphäre, die aus der Perspektive von Emily, dem einzigen Mädchen in dieser Clique, erzählt wird. Man verspürt beim Lesen eine Nähe zu den moralischen und emotionalen Herausforderungen dieses jungen Mädchens, die authentisch erzählt werden und es möglich machen, eine gefühlsmäßige Bindung zu ihr aufzubauen.
Nach einem – zugegeben – etwas holprigen Anfang überzeugt der Text und löst Interesse aus, wie sich denn diese Teenagergeschichte weiter entwickeln wird.

Ergänzung von Ýr Estrid zum Text:
Als ich das Statement von der Jury zu meinem Beitrag gesehen habe, wurde ich erst etwas stutzig. Dann habe ich aber verstanden, wie die Interpretation zustande gekommen ist und habe mich darüber gefreut, eine andere Perspektive auf meinen Text hören zu können. Weil Repräsentation aber wichtig ist, wollte ich das nicht unkommentiert lassen. Emily ist ein trans Mädchen, was in ihrem Dorfbus, den sie jeden Tag zur Schule nimmt, von einem Mitglied des Schützenvereins transphob beleidigt wird. Mit Gustav und Dienstag zusammen bildet sie eine Gruppe, die von dem Busfahrer, Lausejungens getauft wurde. Die Geschichte beschäftigt sich mit ihrer neuen Identität als Mädchen und wie ihr Umfeld damit umgeht. Wie so oft in Kästners Werken schmieden die Kinder zusammen einen Plan, wie sie trotz fehlender Hilfe von Erwachsenen dieses Problem aus dem Weg schaffen können.

Parole: Emily und der rauchende Bus lesen

Statement der Jury
Die raumgreifende ausführliche Erzählung „Die Entwicklung“ von Julia Jagoda ist stark angelehnt an „Die Verwandlung“ von Franz Kafka, sie lässt sich aber (vor allem im zweiten Teil) als originelle Anverwandlung und Fortsetzung der Vorlage lesen. Die Autorin kann mit Spannung erzählen und sie beeindruckt vor allem durch ihre Einfälle, durch die sie eine kohärente Geschichte – eine konsistente Welt – aufbaut.
Die Verwandlung der jungen Protagonistin, der Studentin Gabriela, ist als Ausdruck der Überforderung im Studenten- und Arbeitsleben zu deuten. An die Stelle der Welt von Gregor Samsa tritt die Welt der Universität, in der sich die junge Frau überfordert fühlt, denn sie soll neben dem Studium auch für ihre Familie sorgen. Sie leidet unter permanenten Schuldgefühlen, weil sie den Erwartungen nicht gerecht wird. Aufgrund ihrer Unsicherheit, die bis zum Selbsthass reicht, und des Gefühls, nie genug zu leisten, flüchtet sie in die Gestalt eines Ungeziefers.
„Zum ersten Mal in den vergangenen Monaten realisierte ich, dass sich etwas verändert hatte. Natürlich war mir bewusst gewesen, dass es zu einer Verwandlung gekommen war. Mein Verhalten war genauso andersartig geworden wie mein Körper. Ich fühlte mich fremd, beinahe wie zu Besuch in dieser Hülle. Aber nie war mir in den Sinn gekommen, ich könnte mein Ich, die Essenz dessen, was mich ausmacht, verloren haben.“
In der Geschichte geht es um Menschlichkeit und Empathie, welche die Protagonistin für ihre Lage einfordert. Um das Recht als Mensch. Auf der anderen Seite ist die Erzählung eine bittere Anklage gegen die mangelnde Empathie in der Welt der Universität und in jener der Familie. In der Erzählung findet eine gnadenlose Abrechnung mit der Familie statt – die einzelnen Mitglieder entlarven sich langsam (man kann eben diese „Entwicklung“ mit Spannung verfolgen) als gefühllos, egoistisch und selbstbezogen: Wie zur Zeit von Kafka gilt Respektabilität als oberster Wert der bürgerlichen Familie. Und das Sprechen über Gefühle ist ein Tabu. So, wie die Vertreter der Universität gekonnt lächerlich gemacht werden, werden die Mitglieder der Familie der jungen Frau als Betrüger und Egoisten demaskiert, die sie im Grunde nicht lieben, sondern nur ausbeuten wollen. (Wegen der Drastik der Abrechnung mit der Heuchlerei und Brutalität der – bürgerlichen – Familie haben wir an den Film „Das Fest“ gedacht.)
„Natürlich will ich glücklich sein.“, antwortete ich mit erstickter Stimme, „Aber Menschen wie mir wird es immer an Glück mangeln.“

Die Entwicklung lesen

Die »Besondere Würdigung« erhielten:

Statement der Jury
„Die Herrlichkeit des Lebens“ überrascht mit ganz eigener Sprache und eigenem Schriftbild. Liv Modes lässt sich von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ inspirieren, bedient sich dabei aber der Stilmittel von Social Media und messenger-Diensten. Beim Lesen von WhatsApp-Nachrichten, Insta-Posts und Kommentarensetzt sich auf faszinierende Weise das Bild einer Person und ihrer Familie zusammen.

Die Herrlichkeit des Seins lesen

Statement der Jury
Vivien Sczesny hat in ihrem Text „Die Möwe“ von Anton Tschechow wunderbar
mutig und sehr frei überschrieben. Auf experimentelle Art erzählt sie leicht und
intelligent – sowohl auf formaler als auch stilistischer Ebene – über das Experiment
der Selbstfindung: es ist überfordernd, beglückend, infrage stellend.

Überlebenskünstler:in: Die Möwe fliegt lesen

Statement der Jury
Lotta Müller hat mit ihrem Text eine überzeugende Erinnerungsarbeit vorgelegt.
Plastisch beschreibt sie, wie sich eine Schwester an den Bruder erinnert, dessen Tod nicht Folge seines Drogenkonsums ist, der die Familie zerrissen hat und erst jetzt offen thematisiert wird. Scheinbar einfache Antworten gibt es nicht und so trifft ihre Kurzgeschichte das Thema Trauerarbeit mitten ins Herz.

Todesfall lesen